Afghanistan: Die erst 23 Jahre alte Provinzabgeordnete Gul Makay Wakili wurde bei einem Taliban-Angriff in der Provinz Nimros getötet. Eine von zahllosen Aktivistinnen, die ihr Leben lassen mussten.
Sie war schön und klug, sie hatte Humor, sie strahlte Optimismus aus und wollte beim Wiederaufbau ihres Landes helfen. Jetzt ist Gul Makay Wakili tot. Die erst 23 Jahre alte Abgeordnete des Provinz-Rates („Schura“) im südwestafghanischen Nimros wurde am 5. Mai bei einem Talibanangriff getötet.
Als ich Gul Makay Wakili im Jahre 2004 kennenlernte, war sie erst 17 und Schülerin der 12. Klasse des Mädchengymnasiums in der Provinzhauptstadt Saradsch. Ihre auffallenden grünen Augen funkelten vergnügt unter dem hellgrünen Kopftuch, als wir sie zusammen mit anderen Schülerinnen zum Gespräch baten. Gul berichtete, sie wolle „Journalistin und Literatin“ werden. Obwohl sie noch kein Abitur hatte, war sie selbst schon als Aushilfslehrerin tätig, unterrichtete morgens vor Schulbeginn Englisch und bildete sich nachmittags am Lehrerkolleg weiter.
Sie war eins jener jungen afghanischen Mädchen, die unglaublich hart arbeiten, weil sie wissen, dass Bildung die einzige Chance für sie und für ihr Land ist. Sie sind auch deshalb so fleißig, weil die wenigsten das Privileg einer höheren Bildung erlangen. Nicht mal als ein Drittel aller afghanischen Mädchen werden eingeschult, noch viel weniger machen Abitur. Und wo sie zur Schule gehen, werden sie bedroht. In Kundus griffen islamistische Kämpfer Ende April und dann nochmals Mitte Mai mehrere Mädchenschulen mit süßlich riechendem Giftgas an, mindestens 80 Schülerinnen und mehrere Lehrkräfte mussten ins Krankenhaus. „Ich war in meiner Klasse und dachte, ich rieche eine Blume“, berichtete ein Mädchen namens Sumaila. „In diesem Moment sah ich, wie meine Klassenkameradinnen und mein Lehrer hinfielen.“ Es war die fünfte Gas-Attacke innerhalb eines Monats in Afghanistan.
Gul und ihre Freundinnen berichteten uns damals über die Zeit unter den Taliban. Frauen und Mädchen durften die Häuser nicht verlassen, und „unsere einzige Beschäftigung war, iranisches Fernsehen zu gucken.“ Das staubige Provinznest Sarandsch, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Iran entfernt, bezieht Strom und Fernsehbilder aus dem Nachbarland. Lachend erzählten die Schülerinnen von ihren Tricks, wie sie die Koranschüler narrten: „Wir wurden einmal beim Fernsehen erwischt, und die Taliban wollten das Gerät beschlagnahmen. Meine Cousins bauten ganz schnell die Innenteile aus und gaben ihnen das nackte Gehäuse mit. Sie haben es nicht bemerkt.“ Gul Makay kommentierte: „Wenn wir Afghanen uns einigen würden, dann könnten wir eine gute Gesellschaft aufbauen. Aber wenn wieder alle um die Macht kämpfen, wäre das schrecklich, und die Taliban kämen vielleicht wieder. Die Angst ist latent da. Deshalb brauchen wir eine Regierung der nationalen Einheit.“
Sie trat deshalb selbst als Kandidatin an, als 2005 Parlament und Provinzräte zur Wahl standen. Ein Viertel der Sitze war für Frauen reserviert, im Falle von Nimros gar drei von neun Posten. Und Gul, deren Namen auf Dari „Blume“ bedeutet, die politisch nicht festgelegt war, die mit allen gut konnte, wurde gewählt. Wieder arbeitete sie viel und hart, und, was neu und ungewöhnlich war: In einem Rechenschaftsbericht machte sie transparent, was die Provinz-Schura getan habe und noch zu tun gedenke. Auch das machte sie beliebt.
Nimros ist ein besonderer Flecken. Neben dem legendären Pandschirtal ist es die einzige Region von Afghanistan, die weder von den Sowjets noch von den Taliban jemals ganz erobert wurde. Das lag an der „Nimrosfront“, einer Widerstandsgruppe aus verfolgten Demokraten, die sich einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus verschrieben hatte und den politischen Islamismus ablehnte. Als die Taliban Ende 2001 abzogen, übernahmen ihre Veteranen die Provinzregierung. Bis ungefähr 2005 war Nimros die sicherste afghanische Provinz. Auch die Frauen lebten dort ein wenig besser, kaum eine trug die Burka, und die örtliche Regierung ließ – einmalig in ganz Afghanistan – koedukative Schulen errichten. Auch Gul profitierte von den Bemühungen der lokalen Machthaber um Mädchenbildung.
Die Provinzregierung tat intuitiv das Richtige, obwohl sie keine Kenntnis hatte von den Studien der Weltbank, der Kinderhilfsorganisation Plan International oder der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung, die allesamt zum Ergebnis kommen, Mädchenbildung sei der zentrale Entwicklungsfaktor. Sie verringe die Armut und treibe die Gleichstellung der Geschlechter an, senke die Fruchtbarkeitsrate der Menschen und steigere die der Felder. Gebildete Frauen hätten weniger Kinder, ernährten diese besser und kümmerten sich mehr um ihre Gesundheit und Bildung. Wie um das zu bestätigen, gaben Gul Makay und ihre Freundinnen kund, sie wollten „nicht so schnell heiraten“. „Wir wollen Selbstbestimmung“, forderte Gul.
Umgekehrt gilt: „Attacken auf Mädchenschulen sind Teil der Langzeitstrategie der Taliban, die Gesellschaft in dunkle Zeiten zurückzustoßen“, schreibt der indische Konfliktforscher D. Suba Chandran. „Welchen besseren Weg gibt es, eine Gesellschaft von Ungebildeten heranzuzüchten, als die Mädchenerziehung zu stoppen?“ Doch nicht nur die Koranschüler, auch etliche Warlords der Regierung Karsai betreiben eine „Geschlechtersäuberung“ des öffentlichen Raumes. Politikerinnen, Journalistinnen und Frauenrechtlerinnen werden bedroht, außer Landes getrieben oder ermordet. Wie nun auch Gul Makay.
Seit US-Truppen die Taliban in Helmand bekriegen, werden diese zunehmend in die Nachbarprovinz Nimros getrieben. Provinzgouverneur Gholam Dastegir Asad beklagte sich in Kabul, diese Art von Kriegführung verlagere die Probleme nur, doch weitere Schutzmaßnahmen wurden ihm verweigert. Und dann kam der Angriff der Taliban am 5. Mai, der bislang schlimmste in Nimros. Neun schwer bewaffnete Kämpfer versuchten die abgeschirmten Regierungsgebäude zu stürmen. Afghanische Sicherheitskräfte schossen zurück, die Angreifer verschanzten sich in Privathäusern, die Schießereien dauerten stundenlang. Das Gebäude des Provinzrates, in dem Gul sich mit ihren zwei Kolleginnen aufhielt, war schlechter abgesichert, die Taliban drangen ein, die beiden anderen Frauen konnten fliehen, doch Gul Makay Wakili gelang das nicht mehr.
Am Ende waren mindestens zwölf Menschen tot: die Provinzrätin und mindestens zwei Sicherheitskräfte, aber auch ihre Mörder. Alle neun Attentäter, von denen acht aus Pakistan stammten, wurden nach Angaben des örtlichen Polizeichefs Dschabar Purdeli von Sicherheitskräften erschossen oder starben bei der Detonation ihrer Sprengstoffwesten. Der afghanische Präsident Hamid Karsai verurteilte die Aktion. Anders als üblich nannte er Gul Makay sogar namentlich und sprach ihrer Familie sein Beileid aus. Sie sei eine „fleißige Frau“ gewesen, die für ihr Land viel getan habe. Afghanistan hat eine Hoffnungsträgerin weniger.