Die taz veröffentlichte am 27.März exklusiv eine Ansprache von Kanzlerin Merkel, die sie halten will, sobald die Corona-Krise abgeflaut ist
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
heute wende ich mich an Sie, um die Freude mit Ihnen zu teilen, dass wir gemeinsam die schlimmsten Auswirkungen der Corona-Krise überwunden haben. Ich danke von Herzen allen Helferinnen und Helfern, besonders denen aus dem Gesundheitswesen! Ohne Ihren selbstlosen Einsatz hätten wir das nicht so glimpflich überstanden. Mein Dank geht aber auch an die Supermarkt-Kassiererinnen, Altenpflegerinnen und Kita-Betreuerinnen – und überhaupt an all jene, die unseren Alltag am Laufen hielten und doch so schlecht bezahlt werden. Das muss sich ändern.
Uns allen ist in jenen Tagen schmerzlich bewusst geworden, dass Gesundheit einer der höchsten Werte ist. Unsere Krankenversorgung ist dem in den letzten Wochen nicht immer gerecht geworden. Wir hatten zwar viele Intensivbetten, aber nicht genug Pflegekräfte. Die Privatisierung des Gesundheitswesens, die Abrechnung nach standardisierten Fallgruppen, die Überlastung von Pflegekräften bei gleichzeitig schlechter Bezahlung – all das war keine gute Idee. Vor 1985 war es gesetzlich verboten, in Kliniken Gewinne zu machen. Müssen wir nicht dahin zurückkehren? Wir brauchen Krankenhäuser, die nach Kriterien des Gemeinwohls wirtschaften und Personal menschenwürdig bezahlen. Wir haben genug Pflegekräfte im Land – doch die meisten haben wegen schlechter Bedingungen ihre Arbeitsstelle gewechselt. Nun stehen wir in der Pflicht, sie zurückzugewinnen.
Heute betrauern wir die Toten, die das Virus gefordert hat, und wir fühlen mit den Angehörigen. Wir als Bundesregierung müssen uns aber auch fragen, ob weitere Todesfälle vermeidbar waren und sind: die rund 25.000 Toten, die die Grippe jedes Jahr fordert, die jährlich 33.000 Personen, die multiresistenten Keimen erliegen, die 4.000 Verkehrstoten pro Jahr, die 10.000 Hitzetoten im Dürresommer 2018. Durch die Klimakrise ist es zudem wahrscheinlicher geworden, dass wir zukünftig Malaria-, Dengue- oder Nilfieber-Pandemien erleben. Wir sind es allen Menschen schuldig, dass wir hier genauso durchgreifen.
Die Bundesregierung will deshalb Kliniken und Seniorenheime kommunalisieren, Pflegepersonal nach skandinavischem Vorbild besser ausbilden, besser bezahlen und weniger belasten. Die tierquälerische und gefährliche Massentierhaltung als Hauptquelle multiresistenter Keime wird verboten. Landwirte, die Ställe tierfreundlich umbauen, bekommen Unterstützung. EU-Agrarsubventionen gehen vor allem an jene, die Humus aufbauen und CO2 in Böden speichern sowie Wasser und Artenvielfalt schützen, indem sie ohne Pestizide und Kunstdünger wirtschaften.
Klima- und Artenschutz wird zur obersten Priorität, damit wir unser aller Überleben sichern. Unser Hauptaugenmerk muss darauf liegen, nicht nochmal eine solche Pandemie zu erleben. Städte und Verkehrssysteme benötigen einen Totalumbau, und Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, bekommen hier größere Mitspracherechte. Repräsentativ ausgeloste Bürgerräte, die frei von Lobby-, Partei- und Eigeninteressen agieren, werden auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene die wirksamsten Maßnahmen zusammentragen.
Der ökosozialen Neustart unserer Wirtschaft sollte sich nicht länger am abstrakten Bruttosozialprodukt orientieren, sondern am Wohlergehen aller Menschen und Lebewesen. Wir möchten nicht den Fehler von 2008 wiederholen: Damals haben wir Banken statt Menschen gerettet, aber menschen- und klimafeindliche Infrastrukturen unverändert gelassen. Diesmal aber spüren wir: Es ist keine gute Idee, von langen Lieferketten, von Medikamenten und Modems aus China abhängig zu sein. Statt hemmungsloser Globalisierung brauchen wir eine Glokalisierung, eine krisenfeste Relokalisierung der Wirtschaft mit reparaturfreundlichen langlebigen Gütern. Das spart Treibhausgase und schafft sinnvolle Arbeitsplätze vor Ort.
Die Bundesregierung hat jetzt schon Milliarden in die Hand genommen, um Unternehmen zu helfen. Doch wir wollen Kredite und Soforthilfen nicht per Gießkanne verteilen, sondern als Hilfe zum ökosozialen Umbau. Ein bedingungsloses Grundeinkommen soll Künstlern, Musikerinnen, Kabarettisten und anderen Soloselbständigen zugute kommen, wobei Frauen und Alleinerziehende Vorrang haben. Die Flugzeug-, Kreuzfahrt- und Autoindustrie soll nur dann Subventionen erhalten, wenn sie auf klimafreundliche Mobilität umschaltet. Die Zahl erlaubter Starts und Landungen auf Flughäfen wird eingefroren. Der neue Berliner Flughafen BER ist unnötig, in seinen Hallen wird ein moderner Indoor-Golfplatz für ausrangierte Manager eingerichtet. Auf Straßen und Autobahnen gilt ein Tempolimit. Im Tourismusbereich wollen wir unter anderem gesunden Radtourismus und transatlantische Überquerungen per Schiff fördern. Wir haben ja alle in den letzten Wochen gespürt, wie gut uns die Pausentaste tut, etwa durch eine zweiwöchige Reise nach Amerika.
Es kommen also hohe Kosten auf uns zu, die wir jedoch gegenfinanzieren können. In den 1930ern hat die US-Regierung mit dem New Deal die Krise abgefedert und damit ein Abdriften in den Faschismus verhindert, und das können wir mit einem EU-weiten Green New Deal wiederholen. Zunächst wollen wir alle umweltfeindlichen Subventionen abschaffen, etwa für Flugbenzin; das spart allein in Deutschland rund 60 Milliarden Euro. Zweitens bauen wir das Finanzsystem um und führen Reichensteuern ein; Superreiche zahlten damals zeitweise bis zu 90 Prozent Steuern. Drittens: Durch eine ökosoziale Steuerreform senken wir Lohnsteuern und erhöhen Steuern auf Ressourcenverbrauch einschließlich CO2. Zudem brauchen wir Eurobonds, gemeinsame EU-weite Anleihen, damit nicht einzelne Staaten erneut in die Krise rauschen.
Zudem denken wir über eine umfassende Bodenreform nach. Mieten in Städten müssen bezahlbar bleiben, für landwirtschaftliche Bodenpreise gilt dasselbe. Es ist nicht einzusehen, dass Menschen in spätrömischer Dekadenz von leistungslosem Einkommen leben – um den verstorbenen FDP-Chef Guido Westerwelle zu zitieren. Er meinte zwar Hartz-IV, aber wir meinen jetzt die Kapitalfonds und Grundbesitzer.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger – ich lade Sie alle herzlich ein zum Neustart Deutschland. Ja, wir können solidarisch!
Jetzt ist die beste Gelegenheit, mit dem menschen- und planetenfeindlichen Wirtschaften aufzuhören und eine wahre Solidargemeinschaft zwischen Menschen und Natur zu gründen. Meine Rede ist zwar nur Fiktion, aber ich bin fest überzeugt davon, dass wir solche visionären Erweiterungen unseres Denkens brauchen, um unser Handeln neu auszurichten. Ich danke Ihnen. Aufgezeichnet von Ute Scheub