Politiker, eingeklemmt zwischen Krisen, Katastrophen und Kurznachrichten, können kaum mehr regieren. Doch global zeigen sich Anfänge einer neuen Wiederaneignung von Politik, Demokratie und Leben.
Apokalyptischer Schreck in der Morgenstunde. Alle Umweltpolitik hat nichts genützt, der Ausstoß an klimaschädlichen Treibhausgasen hat 2010 mit weltweit über 30 Gigatonnen ein neues Rekordhoch erreicht, vermeldete „Spiegel Online“ vor kurzem mit einem extragroßem Aufmacher. Der Chefökonom der Internationalen Energieagentur, Fatih Birol, halte das Begrenzen der Erderwärmung auf höchstens zwei Grad plus nur noch für „eine nette Utopie“.
Sechs Stunden später: Der Aufmacher ist verschwunden. Nach intensivem Suchen lässt er sich noch in der Rubrik „Wissenschaft“ finden – unter Ferner liefen. Es ist nicht anzunehmen, dass die Bundeskanzlerin, der Bundeswirtschaftsminister, die Chefs der Energiekonzerne oder gar die Präsidenten der USA und Chinas die Fakten auch nur zur Kenntnis nahmen.
Apokalypsen im Stundentakt, und die Regierenden haben weder Zeit noch Interesse noch Möglichkeiten, die Probleme anzupacken. Sicherlich, diese „sogenannte Bundesregierung“, wie der „Spiegel“ jüngst schrieb, agiert politisch wie handwerklich auf jämmerlichem Niveau; sie scheint befallen vom Murxismus-Lähminismus. Doch in der globalisierten Welt, in der Nachrichten, Geld- und Warenströme in Sekunden um den Globus jagen, geraten auch die fähigsten Politiker schnell an ihre Grenzen.
Was war denn in den letzten beiden Jahren? Die fette Finanzkrise. Die Erdbeben in Haiti und Chile. Das Ölleck im Golf von Mexiko. Die wochenlangen Brände um russische Atomanlagen. Die Jahrhundert-Sintflut in Pakistan. Die Erdrutsche in China. Alles schon vergessen. Alles schon so lang her. In Haiti werden weiterhin Frauen in Notunterkünften vergewaltigt, Pakistan ist destabilisiert wie noch nie, in allen Meeren wird eifriger denn je nach Öl gebohrt. Und die Spekulanten kassieren genauso weiter wie Ratingagenturen und Steueroasenbewohner. Die Politik ist nicht einmal mehr dann fähig, sie zu stoppen, wenn es um die Zukunft des Euro und der EU geht. Natürlich wurden hektische Beschlüsse gefällt – aber ohne jede Tiefenwirkung.
Man muss sie fast schon bemitleiden, die Herren und Damen Politiker, sie jagen von Krisentreffen zu Krisengipfel, sie jagen den Ereignissen hinterher, gehetzt von Ereignissen, Schlagzeilen, in jeder Stunde, jeder SMS, jeder Twitter-Nachricht ein neuer Skandal; mit der Schnelligkeit wächst die mediale Hysterie, die Zeitnot, die Atemlosigkeit aller Beteiligten; Nachdenken, Besinnen, gar kreative Problemlösung sind Fremdworte geworden, was alle bestätigen, die mit Berliner Regierungspersonal zu tun haben: „Die entwickeln keine Strategien mehr“, hört man allenthalben; wie ein Junkie klebt die Kanzlerin an ihrem Handy, versendet SMS-Nachrichten, versucht damit die Kontrolle über die Ereignisse und ihre eigenen Leute zu behalten, eine neue Form von Voodoo und genauso wirkungslos.
„Rasender Stillstand“, so nannte Paul Virilio diesen Zustand, „die Diktatur des Jetzt“ sei das, befand der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber – und erinnerte daran, dass die Menschheit in einem Jahr so viel Öl verbrennt, wie in 5,3 Millionen Jahren entstanden ist. „Nachhaltigkeit“? Ein Treppenwitz.
Die Zeitspanne, in der die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird, wird notwendigerweise immer kürzer. In seinem Buch „Beschleunigung“ beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa das Paradox der Moderne so: „Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen“. Einerseits verfügt die Menschheit über historisch einmalig viele Möglichkeiten, Zeit einzusparen. Andererseits scheint dieselbe Zeit immer schneller zu rasen. Laut Rosa kommen drei Arten von Tempoverstärkung zusammen: die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des Lebenstempos und die Beschleunigung sozialer und kultureller Veränderungsraten. Die Folge: Der Zeitraum für Entscheidungen schrumpft, die Zahl notwendiger Entscheidungen wächst, und die Kluft dazwischen reißt auf wie ein Abgrund, auf dessen Rand die Entscheidungsträger traumtänzeln – sie reagieren nur noch und agieren nicht mehr. Die Gefahr ist real, dass sich in den nächsten Jahrzehnten Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen so überstürzen und überlagern, dass nicht einmal mehr die reichen Länder genug Geld, Zeit und Ressourcen zu ihrer Bekämpfung haben, und die wachsende Zahl fragiler Staaten erst recht nicht.
Das klingt extrem düster. Andererseits gibt es unglaublich viel hoffnungsvolle Bewegung von unten, und sie scheint weltweit einen Epochenbruch anzukündigen. Symptome sind die Arabellion mit ihrem Schrei nach Demokratie, Brot und Würde, die direkte Demokratie auf den öffentlichen Plätzen von Kairo und Madrid, die anschwellende Wachstumskritik, der Ruf nach solidarischer Ökonomie und Gemeinwohlwirtschaft, der Massenumstieg auf erneuerbaren Energien und umweltfreundlichere Produktionsweisen. So disparat diese Bewegungen erscheinen mögen, so vielfältig ihre Motive, sie haben doch eins gemeinsam: das Verlangen nach Wiederaneignung und Rückgängigmachen von Entfremdung: Wiederaneignung von Politik, Wirtschaft, Demokratie, öffentlichen Räumen, Arbeits- und Lebensweisen, Wiederverfügung über Gemeingüter, Energie, Mobilität und fruchtbarem Boden, Verkürzung von Handels- und Handlungsketten.
Vor allem zwei technologische Umwälzungen haben das möglich gemacht: das Internet und die dezentralen erneuerbaren Energien. Beide schaffen die neue materielle Basis, dass Menschen mit der Hierarchie zwischen Machtzentralen und Untertanen, Sendern und Empfängern brechen können, beide machen es möglich, dass Demokratie als Selbstbestimmung der Menschen neu gelebt wird, auch als Medien-, Wirtschafts- und Energiedemokratie. Mühsam, noch sehr unreif und instabil, mit allen Problemen und Widersprüchen, zeigt sich hier der Anfang einer neuen ökosozialen Gesellschaftsformation jenseits des erdölgetränkten Turbokapitalismus.
Es sind Versuche, die Souveränität über das eigene Leben und die Gestaltung der Gesellschaft wiederzuerlangen. Wiederaneignung schafft auch Entschleunigung und Verlangsamung. Lautstark fordern Menschen überall, ihr Schicksal mitzubestimmen – ob bei den Antiatomdemonstrationen oder auf dem Tahrirplatz. Sie reklamieren, es besser zu können als die abgehetzte abgehalfterte politische Klasse. Dieser politische Klimawandel könnte entscheidend mithelfen, den physikalischen aufzuhalten. Die verstorbene Alternative Nobelpreisträgerin Dekha Abdi Ibrahim aus Kenia drückte es so aus: „Wenn genug Individuen, Städte und Religionsgemeinschaften auf klimafreundliche Strategien setzen, wird die Politik nachziehen. Von oben wird es keinen Wandel geben. Die Politik führt nicht, die Gesellschaft führt – und die Politik folgt.“ Ute Scheub